Nicht cis, nicht trans und nicht binär
Entweder Mann oder Frau – für die meisten von uns gibt es nur diese beiden Möglichkeiten, nur diese binäre Aufteilung. Unsere Gesellschaft ist auf binären Strukturen aufgebaut.
Lange Zeit gab es auch nur diese beiden Optionen für den Geschlechtseintrag. Erst seit einigen Jahren gibt es die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag streichen zu lassen oder (eigentlich ungenau bezeichnet) „divers“ zu wählen.
Andere Kulturen als die unsere kennen durchaus mehr als diese beiden Möglichkeiten, aber in unserer Kultur galt und gilt: entweder Mann oder Frau.
Als ausschlaggebend für die Zuordnung gilt im Prinzip, wie die primären Geschlechtsmerkmale beschaffen sind: Penis und Hoden gleich Mann, Vulva gleich Frau. Die Biologie ist über diese stark vereinfachte Zuordnung längst hinweg und weiß, dass Geschlecht sehr viel komplexer ist. Das beginnt bei inter*geschlechtlichen Menschen mit primären Geschlechtsmerkmalen, die nicht eindeutig zugeordnet werden können und geht inzwischen soweit, dass Neurobiolog*innen eher das Gehirn als das entscheidende Geschlechtsmerkmal betrachten.
Wie dem auch sei: die meisten von uns kennen eigentlich nur entweder Mann oder Frau. Das sagt ja scheinbar auch die Bibel aus: „Und Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“ (Genesis 1,27). Wobei eine bessere Übersetzung aus dem Grundtext lautet: „Und Gott schuf den Menschen von männlich bis weiblich“.
Nicht cis
Einige Menschen merken, teilweise schon früh in der Kindheit, dass sie sich nicht dem Geschlecht zuordnen, das ihnen bei der Geburt aufgrund ihrer Genitalien zugewiesen wurde. Eine scheinbar weibliche Person sagt „ich bin ein Junge“, eine scheinbar männliche Person „ich bin ein Mädchen“.
Psycholog*innen diagnostizieren dann bei ihnen eine Geschlechtsdysphorie oder Geschlechtsinkongruenz und vermuten, dass sie transgeschlechtlich sind. Sie bekommen die (inzwischen veraltete) Diagnose F64.0, und nach einer Weile, wenn sich die Vermutung aus psychologischer und ärztlicher Sicht bestätigt, die Diagnose F64.0G, wobei das „G“ für gesichert steht.
Aber einige dieser Personen stellen nach einer Weile fest, sie sind doch …
Nicht trans
Ganz selten (wir reden hier von weniger als 1 %) sind die Personen tatsächlich cis, und die Diagnose war vollkommen verkehrt. In diesen Fällen ist eine Detransition erforderlich.
Aber viel häufiger kommt es vor, dass diese Personen etwas anderes sind, nicht cis, auch nicht trans, sondern:
Nicht binär
Ich gehe davon aus, dass eigentlich jeder Mensch nicht binär ist und dass sich die meisten trotzdem einem der beiden binären Geschlechtermodelle, Mann oder Frau, zuordnen.
Viele sind tatsächlich vor allem männlich oder weiblich und sehen sich dann durch das bei ihnen vorherrschende Geschlecht am besten beschrieben und ordnen sich diesem Geschlecht zu. Manche sagen vielleicht, „ich habe auch Anteile vom anderen Geschlecht“.
Andere glauben halt tatsächlich, dass es eben nur genau zwei Geschlechter gibt und jeder Mensch (mit der seltenen, von ihnen vorwiegend defizitär betrachteten Ausnahme der inter*geschlechtlichen Menschen) entweder Mann oder Frau ist. Sie ignorieren diejenigen ihrer Persönlichkeitsmerkmale, die nicht so recht zu dem passen, als was sie sich sehen wollen. Ich denke, darin sind wir sehr gut: Wir ignorieren, was wir nicht verstehen. Wir verdrängen es.
Aber andere Menschen gehen davon aus, dass Geschlecht nicht binär ist, sondern ein bimodales Spektrum, bei dem die Geschlechter annähernd wie in der folgenden Grafik verteilt sind:
Das heißt, viele Menschen sind tatsächlich vor allem männlich oder weiblich, also nahe der beiden Pole. Aber manche Menschen stehen zwischen den beiden Polen (nichtbinär) oder sogar außerhalb (agender).
Viele Menschen, die nicht binär sind, wissen zwar, dass sie anders sind. Vielleicht denken sie, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Aber damit ein Mensch erkennt, dass dey (ein Pronomen für nichtbinäre Personen) nicht binär ist, muss dey wissen, dass es das überhaupt gibt.
Ohne das Wissen um nichtbinäre Geschlechtsidentitäten kann niemand erkennen, tatsächlich nichtbinär zu sein.
Manche nichtbinäre Menschen denken zuerst, sie seien binär trans – etwas anderes als binäre Geschlechter kennen dey ja nicht. Woher denn auch? Also sehen dey sich als trans Frau oder als trans Mann. Sie transitionieren und versuchen in deys vermeintlich echtem Geschlecht zurechtzukommen.
Und meistens funktioniert das nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Dann kommen Zweifel auf, ob die betreffende Person wirklich trans ist oder womöglich doch cis. Ob die Transition wirklich der richtige Weg war.
Wenn diese Menschen nichtbinäre Personen kennenlernen, merken dey vielleicht, dass diese nichtbinären Personen so sind wie dey selbst. Weder Frau noch Mann. Mit den richtigen Informationen können dey erkennen, dass dey eben nichtbinär sind, dass dey entweder zwischen den Polen stehen oder außerhalb.
Mir ist an dieser Stelle wichtig: Wenn eine Person, die vermeintlich binär trans* ist, mit ihrer binären trans*geschlechtlichen Identität und ihrer Transition im binären Geschlechtermodell nicht so zufrieden ist wie erhofft, kann es gut sein, dass diese Person nichtbinär ist.
In diesem Fall ist es meist sinnvoll, wenn diese Person ihre nichtbinäre Geschlechtsidentität erforscht. Es ist kein Scheitern, wenn die binäre Transition nicht funktioniert hat. Eine nichtbinäre Transition ist in diesen Fällen die richtige Entscheidung.
Wie sind nichtbinäre Geschlechtsidentitäten beschaffen?
Aus der Grafik weiter oben wissen wir, dass manche nichtbinäre Menschen zwischen den beiden Polen stehen, andere aber außerhalb. Nichtbinäre Menschen können also durchaus gar kein Geschlecht haben (agender).
Andere stehen auf dem Spektrum entweder relativ statisch zwischen den beiden Polen (manche näher beim weiblichen Pol, andere näher beim männlichen Pol), andere sind da eher fluide und bewegen sich auf dem Spektrum. Ihre Bewegung kann dabei durchaus das gesamte Spektrum umfassen – und manchmal auch außerhalb der Pole liegen, also geschlechtslos sein.
Es gibt nicht den nichtbinären Menschen. Nicht binäre Geschlechtsidentitäten sind vielfältig wie ein bunter Regenbogen.
Nichtbinäre Menschen in unserer Gesellschaft
Nichtbinäre Menschen haben es in unserer Gesellschaft meist schwerer als binäre Personen, selbst als binäre trans* Personen. Immerhin ist es dank des Selbstbestimmungsgesetzes möglich, den Geschlechtseintrag „divers“ zu bekommen (auch wenn z. B. „nichtbinär“ besser wäre als das sachlich falsche „divers“) oder den Eintrag streichen zu lassen.
Doch an vielen Punkten scheitert unsere Gesellschaft an der Akzeptanz und Integration nichtbinärer Menschen – etwa weil viele Räume wie Toiletten, Umkleideräume usw. binär kodiert sind, weil Pronomen und Anreden meist binär gegendert sind.
Auch im religiösen Bereich stoßen nichtbinäre Menschen oft auf Ablehnung und Ausgrenzung.
Pronomen und Anrede
Unsere Gesellschaft kennt fast nur binäre Pronomen und Anreden und ist ziemlich neben der Spur, wenn es um korrekte Pronomen und Anreden für nichtbinäre und agender Personen geht.
Das Wichtigste vorweg: „Divers“ ist ein amtlicher Geschlechtseintrag, keine Anrede. Es gibt kein Geschlecht, das „divers“ genannt wird oder deren Angehörige so angesprochen werden können.
Die beste Anrede ist etwa „Hallo Vorname“ oder „Guten Tag Vorname Nachname“.
Beim Pronomen gilt: mit dem eigenen Pronomen vorstellen. Dann weiß die andere Person, falls dey nichtbinär oder agender ist, dass ein Bewusstsein für das Thema besteht und kann mit dem gewünschten Pronomen reagieren.
Auch aus diesem Grund verwende ich meine Pronomen (sie/ihr) in meinen Mail-Signaturen und auf meinem Namensschild.
Nichtbinär und geschlechtsbestätigende Medizin
Sowohl das Gesundheitssystem als auch die Krankenversicherungen kennen grundsätzlich nur binäre trans* Personen und darum nur solche Maßnahmen, die einer sog. gegengeschlechtliche Transition dienen, um das männliche oder das weibliche Geschlecht zu bestätigen. Nichtbinäre Menschen sind in diesem System schlicht nicht vorgesehen und werden darum oft an geschlechtsbestätigenden medizinischen Maßnahmen wie Hormonersatztherapie, genitalangleichende Operation, Mastektomie usw. gehindert.
Angesichts dessen sind nichtbinäre Menschen oftmals gezwungen, ein binäres Geschlecht vorzugeben.
Nichtbinär und Trans*
Ich habe nichtbinäre Menschen in diesem Artikel nicht den trans* Personen zugeordnet, sondern im Prinzip drei Gruppen unterschieden: Cis, trans* und nichtbinär.
Tatsächlich gibt es nichtbinäre Menschen, die sich auch als trans* identifizieren, während andere sich als eigene Gruppe neben cis und trans* Personen sehen.
Auf jeden Fall gibt es sowohl binäre als auch nichtbinäre trans* Personen. Die Annahme, alle trans* Personen seien entweder männlich oder weiblich, ist falsch.
Nichtbinär als gender-queere Geschlechtsidentität
Manche cis Menschen lehnen das starre binär-normative Geschlechtersystem und darum auch das ihnen bei der Geburt zugeordnete Geschlecht ab.
Einige von ihnen wählen eine nichtbinäre oder androgyne gender-queere Geschlechtsidentität, um ihre Ablehnung auszudrücken.
Gender-nonconforming
Andere cis Menschen können in den gesellschaftlich erwarteten Verhaltensweisen, die mit dem binären Geschlechtersystem verbunden sind, einfach keinen Sinn erkennen und verhalten sich darum gender-nonconforming, halten sich also nicht an die mit ihrem Geschlecht verbundenen Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft.