Nach der Wahl …

… macht sich Ernüchterung bei mir breit. Das Ergebnis ist nicht so gut wie erhofft, schlimmer als erwartet, aber wenigstens nicht so schlimm wie befürchtet.

Mehr als jeder zweite Wählende hat sich für die Union, die sog. AfD oder das BSW entschieden und damit für rechtsextreme Parteien oder deren rechte Steigbügelhalter. Die Grünen, SPD und Die Linke kommen zusammen auf nicht einmal die Hälfte der Stimmen.

Oder wie ich als trans Frau nun erkenne: Mehr als die Hälfte der Menschen in diesem Land hat offensichtlich kein Problem damit, wenn meine Rechte beschnitten werden. Immerhin muss ich keine Deportation fürchten wie viele andere Menschen in diesem Land, nur Verweigerung meiner Rechte – und Transrechte sind Menschenrechte – und einer erforderlichen medizinischen Versorgung.

Erschreckend ist für mich das Ergebnis von Bündnis 90/Die Grünen, also meiner eigenen Partei, der ich kurz vor der Wahl noch beigetreten bin. Zwar ist unser Absturz nicht so dramatisch wie bei der FDP und der SPD, aber dennoch:

Laut „taz“ konnten wir nur 350.000 neue Wähler*innen gewinnen, 140.000 von der FDP, 100.000 von der SPD und 110.000 Nichtwähler*innen von 2021. Das ist wirklich sehr wenig.

Dafür haben wir 1,72 Millionen Wählende an andere Parteien verloren: erschreckende 1.020.000 an rechte Parteien (jeweils 460.000 an die Union und an das BSW sowie 100.000 an die sog. AfD) und 700.000 an Die Linke. Wir haben also mehr Wähler*innen nach rechts als nach links verloren.

Positiv ist, dass SPD, Die Grünen und Die Linke im neuen Bundestag eine Sperrminorität haben. Für die rechten und rechtsextremen Parteien gibt es keine Zweidrittelmehrheit, wenn wir zusammenhalten.

Positiv ist auch: Das rechts-christliche „Bündnis C“ und die sog. Werteunion liegen bei gerundet 0,0 % und noch positiver ist: Die FDP und das BSW werden im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein.

Negativ ist: Der neue Kanzler kommt von der Union und wird Friedrich Merz sein, ein Trump aus dem Discounter. Das bedeutet für Deutschland in bestimmten Bereichen Stillstand, in anderen Rückwärtsgang, in keinem Bereich Fortschritt. Menschenrechtlich, finanziell, vom Klimaschutz her und wirtschaftlich wird es katastrophal werden. Die Inflation wird drastisch steigen, die Schere zwischen Arm und Reich wird größer werden, die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer, immer mehr Ärmere. Mieten werden explodieren, Kinder werden verarmen. Es wird mehr Insolvenzen geben, mehr Arbeitslose und natürlich mehr Klimakatastrophen. In einer schwierigen Zeit hat sich Deutschland entschieden, mit Vollgas auf den Abgrund zuzurasen. In ein paar Jahren werden wir den gestrigen Tag aus dem Kalender streichen wollen.

Als trans Frau gehöre ich zu jenen Bevölkerungsminderheiten, die von der neuen Regierung unter Merz (und der sog. AfD) besonders unter Beschuss genommen werden. Eine von vielen Minderheiten, deren Rechte auf der Kippe stehen (und dabei eine oft übersehene Minderheit). Eine mögliche schwarz-rote Koalition wird wahrscheinlich das Selbstbestimmungsgesetz stark einschränken oder abschaffen, was besonders nichtbinäre und agender Menschen treffen wird. Und auch die medizinische Transition wird politisch unter Beschuss geraten, zuerst für Minderjährige, dann aber auch – Erfahrungen aus anderen Ländern beweisen das – für Erwachsene. Tatsächlich rechne ich damit, dass die 2019 erfolgte Änderung meines Geschlechtseintrags und meiner Vornamen noch in diesem Jahr durch eine CDU-geführte Bundesregierung rückgängig gemacht werden könnte. Eine Mehrheit im Bundestag ist Merz dafür sicher.

Ich bin geknickt, aber nicht gebrochen – und ich werde jetzt durchatmen, meine Krone richten, das aufgeschlagene Knie verpflastern und dann für unsere Rechte demonstrieren.

Nicht nur für meine Rechte, denn unser Kampf für Demokratie, Freiheit, Vielfalt und Selbstbestimmung muss intersektional sein. Für Menschen mit Migrationsbiografie, für Geflüchtete, für Frauen und FLINTA+, für Armutsbetroffene, für Behinderte und Be_Hinderte, für Autist*innen und Menschen mit ADHS/AuDHS, für LGBTIQA+, für Depressive, für Jüdinnen*Juden. Die verschiedenen Diskriminierungsformen sind miteinander verwoben, die meisten Menschen sind mehrfach benachteiligt oder diskriminiert.

Besonders schmerzt es mich als trans* Frau, dass eine größer werdende Gruppe von Menschen aus dem LGB-Spektrum sich von denen aus dem TIQA+-Spektrum lossagt, sich von Queer distanziert. Nicht selten sind diese Menschen allerdings auch rassistisch, ableistisch und saneistisch. Nur weil wir schwul, lesbisch, bi, trans oder nichtbinär sind, sind wir halt nicht auch automatisch gut und „woke“.

Ich hoffe, dass wir Queers nicht vergessen werden, wenn Menschen für Demokratie, Freiheit, Vielfalt und Selbstbestimmung demonstrieren. Aber ich fürchte, dass genau das passieren könnte, dass wir zugunsten anderer Minderheiten ignoriert werden.

Als Christin bete ich um Kraft für die kommenden Jahre. Ich sehe beunruhigt in die Zukunft, aber ich weiß, dass ich nicht tiefer als in Gottes Hand fallen kann.

Was gewiss ist: Unsere Feinde bekommen weder meine Verzweiflung noch meinen Hass. Ich bin, was ich bin – und so werde ich leben und, wenn es denn sein soll, sterben.

Als Christin weiß ich, dass Gott mich als trans Frau geschaffen hat. Und dass er geschlechtliche Vielfalt einschließlich Trans*geschlechtlichkeit liebt. Ich werde niemals aufhören, das zu glauben und zu bekennen, gegen jede Irrlehre, nach der es angeblich „biologisch bewiesen“ sei, dass es „nur Männer und Frauen“ gibt.

Gott wird mir, Gott wird uns die Kraft dafür geben, wenn wir ihn darum bitten und seine Nähe suchen. Wer uns abweist, wenn wir Hilfe in Bedrängnis und Not suchen, der weist Jesus ab – dessen bin ich gewiß.

Jetzt erst recht.

Nachtrag: Ich hoffe, wenn auch wahrscheinlich vergeblich, dass die amtierende Bundesregierung jetzt, wo es nicht mehr als Wahlbeeinflussung gelten kann, beim Bundesverfassungsgericht die Prüfung eines Verbots der sog. AfD beantragt. Das Recht dazu hat sie, aber ob sie auch den Willen dazu hat?

Nachtrag 2: Nach dieser Wahl können die christlichen Kirchen nicht einfach zum Alltag übergehen und sich mit dem Wahlergebnis arrangieren. Dass jeder Fünfte die sog. AfD gewählt hat, muss einen Aufschrei in den Kirchen geben. Dass die Union sich der sog. AfD als Steigbügelhalter angedient hat und weiterhin andient, darf in unseren Kirchen nicht unerwähnt bleiben.


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